MusikWoche

Recorded & Publishing

**Welches persönliche Fazit ziehen Sie nach rund fünf Jahrzehnten in der Musikbranche?**

Es war eine gute Entscheidung, mir die Musikindustrie als berufliche Plattform auszusuchen.

**Was waren in dieser Zeit die wichtigsten Veränderungen in der Branche? Gab es eine "gute, alte Zeit" oder wird das romantisiert und verklärt?**

Im Rückblick, nicht nur im beruflichen, färben sich die Dinge gern rosarot, aber ich bin weit davon entfernt, zu sagen, früher seien die Dinge besser gewesen. Das hätte mich auch daran gehindert, positiv in die Zukunft zu schauen und Veränderungen als selbstverständlich, notwendig und auch belebend zu sehen. Ich schaue höchstens in Form der einen oder anderen Anekdote zurück. Die technologischen Veränderungen andererseits waren gewaltig. Kommunikationswege haben sich total geändert. Wer erinnert sich heute zum Beispiel noch an das Telex? Auch diverse audiovisuelle Formate, die kamen und wieder verschwanden, haben mich begleitet. Der entscheidende Umbruch passierte aber natürlich mit der Digitalisierung, die die Musikindustrie als erste Branche sehr hart traf. Und mit dem Streaming kam eine ganz neue Form audiovisuellen Konsums, die auch neue Wege der Vermarktung mit sich brachte und substanzielles wirtschaftliches Wachstum ermöglichte. Ich bin froh, diese Phase aktiv mitzuerleben.

**Hätten Sie vor 40 Jahren gedacht, dass Vinyl ein solches Revival feiern würde? Was sind Learnings daraus?**

Wenn man selbst mit Vinyl groß geworden ist, hat man einfach eine etwas romantische Beziehung zu diesem Format. Aufwändige Artworks, die zum Blättern, Lesen und Anschauen inspirierten, haben mitunter eine tiefere Beziehung zur Musik geschaffen. Insofern ist es nicht überraschend, dass viele Menschen dieses Gefühl haben wollen, neben der allgegenwärtigen Verfügbarkeit der Musik heute, also als Ergänzung. Aber nein, eine solch fulminante Rückkehr des Vinyl-Formates hätte ich nicht vorhersehen können. Das Learning ist, dass Musik mehr ist, als sie nur zu hören. Viele Menschen wollen eine engere Beziehung zur Musik und den Kreativen haben, das funktioniert am besten mit Haptik, Produkte »zum Anfassen«, also nicht nur Vinyl, auch Merchandising-Produkte aller Art.

**Gab es im Laufe der Jahre eine Verschiebung hinsichtlich kreativer Freiheit vs. ökonomischen Druck bei den Labels?**

Heute, aber auch schon seit vielen Jahren, wird mehr kalkuliert als noch zu meiner Anfangszeit. Eine Einschränkung kreativer Freiheit kann ich aber ganz und gar nicht feststellen. Ein A&R Manager kann immer Acts signen, an die diese Person glaubt. Und genau wie früher muss jemand dafür gut argumentieren und das Controlling erst einmal überzeugen. (lacht)

**Gibt es Entscheidungen, die Sie bedauern?**

Was meinen Werdegang angeht, bedaure ich keine einzige Entscheidung, auch wenn das durch diverse Wohnortwechsel eine gewisse Belastung bedeutete. Beim Signing von Acts würde ich in einigen Fällen rückblickend anders entscheiden. Aber das ist das Berufsrisiko. Insgesamt bin ich aber mit der Bilanz sehr zufrieden.

**Sie gelten als Experte vor allem für Schlager, Deutsch-Pop und verwandte Genres. Bereuen Sie es, nicht auch mal in völlig anderen Genres gearbeitet zu haben?**

Ich bin jetzt seit 15 Jahren bei Electrola, vormals Koch. Den Weg, dieses Labels von einem Schlager- und Volksmusiklabel zu einer Unit mit großer musikalischer Genrevielfalt zu begleiten, war äußerst spannend. Die Bandbreite unserer musikalischen Acts ist sehr groß und vielfältig – auch wenn ich merke, dass ich manchmal von außen doch als etwas einseitiger Experte wahrgenommen werde. (lacht) In meinen verschiedenen Funktionen hatte ich aber mit fast allen Genres zu tun. Da fehlt mir nichts. Nur im Rap war ich bisher noch nicht Zuhause, bin in diesem Genre aber auch als privater Konsument überhaupt nicht bewandert. Aber das ändert sich jetzt vielleicht mit dem Abschied aus meinem aktiven Berufsleben zu mehr privater Zeit. (lacht)

![Arbeitete für Teldec, CBS, Intercord, Edel, Polydor, Ariola, Koch, Universal und Electrola: Jörg Hellwig. Foto: Birgit Hellwig](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/19415ad3-51e5-4aa3-ad85-8205df4819ce.jpg)

**Sie waren bei Teldec, CBS, Intercord, Edel, Polydor, Ariola, Koch, Universal und Electrola: Gab und gibt es eigentlich Unterschiede bei der Labelkultur?**

Die Firmenkulturen sind absolut unterschiedlich. Inzwischen fehlt der Vergleich, da alle Firmen sich in den letzten 15 Jahren stark gewandelt haben. Auffällig ist aber, mit welcher Konsequenz sich Universal Music immer als Company mit starkem Domestic Repertoire definiert und lokalem A&R einen großen Stellenwert eingeräumt hat. Das hat mich auch dazu bewogen, 2009 wieder zurück zu Universal zu gehen.

**Wie definieren Sie gutes Management und Personalführung?**

Allgemeingültig kann ich das nicht formulieren. Ich habe immer versucht, aus Dingen, die mir bei Vorgesetzen positiv aufgefallen sind, zu lernen. Dazu gehören ganz simple Dinge wie Respekt, Höflichkeit, Aufmerksamkeit und angemessene Tonalität, unabhängig von Position und Hierarchie. Wichtig ist mir auch, gerade junge Mitarbeitende zu ­empowern, ihnen Vertrauen zu schenken und Mut zuzusprechen, Entscheidungen zu treffen und dabei eine gute Fehlerkultur zu etablieren. Ebenso wichtig ist der richtige Team-Mix: Mir ist ein divers aufgestelltes Team am liebsten, viele unterschiedliche Charaktere mit individuell ausgeprägten Begabungen und mit unterschiedlichen Backgrounds und Sichtweisen als Team zu formieren und allen die Möglichkeit zu geben, sich einzubringen – das führt zum Erfolg. 

> "Wichtig ist mir auch, ­gerade junge Mitarbeitende zu ­empowern." Jörg Hellwig

Und dabei größtmögliche Transparenz zu schaffen, nur das sorgt dafür, dass sich alle als wichtigen Teil des Ganzen verstehen. Rückblickend kann ich sagen, dass ich außerordentliches Glück hatte mit meinen Kolleginnen und Kollegen und auch in meiner Personalauswahl. Nehmen wir zum Beispiel Tom Bohne; ihn habe ich als Junior Produktmanager im Rahmen eines Compilation JVs von Intercord und Sony Music kennengelernt und holte ihn später zu Polydor. Ich habe ihm dann direkt die Verantwortung für das A&Ring bei Zeitgeist übertragen – der Rest ist Geschichte. Oder ­Michael Kucharski. Wir trafen uns bei BMG, er war Werkstudent. Ich behielt ihn in sehr positiver Erinnerung und holte ihn später als Promotionchef zur Intercord, danach zu Universal.

**Sie haben mit Künstlern wie Udo Jürgens, James Last, Howard Carpendale, Peter Maffay, Andre Rieu, Udo Lindenberg oder Andreas ­Gabalier gearbeitet. An welche Begegnungen oder Erlebnisse erinnern Sie sich besonders gern?**

In meiner Zeit als Polydor Geschäftsführer gehörten auch die BeeGees über Polydor UK zum Roster. Die hatten gerade ein sehr erfolgreiches Comeback-Album rausgebracht, als ein Auftritt von ihnen in Las Vegas anstand. Mein damaliger Chef, Wolf D. Gramatke, und ich haben uns die ganz spezielle Show angesehen, in der Zuschauer und Radiohörer die Songs aussuchen durften. Als Special Guest kam dann noch Celine Dion auf die Bühne. Das war wirklich sehr beeindruckend! Ein weiterer in Erinnerung bleibender Trip war der mit Fool’s Garden und ihrem Alltime-Hit "Lemon Tree" nach Japan. So viel Gastfreundschaft habe ich auf keiner Dienstreise je wieder erlebt. Nebenbei liefen uns die Spice Girls über den Weg, deren Manager Simon Fuller selbstbewusst behauptete, das würde ein großes Ding werden. Er sollte Recht behalten. Und dann noch die No Angels. Das Signing fiel mitten in die Übergabe von Polygram an Seagram. Wir mussten neue Projekte präsentieren und ich erzählte von einem Casting-Projekt namens »Popstars«. Der Deal war ambitioniert, TV-Castings hatte es noch nie gegeben. Man fragte mich, wie denn der Act aussehen würde und wie er heißen würde. Ich sagte: Weiß ich noch nicht, aber es wird bestimmt ein Riesending. Gottseidank passierte es auch so. (lacht)

**2025 wird Electrola 100 Jahre alt. Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Labels?**

Für die kommenden Jahre wünsche ich meinen beiden Nachfolgern und dem ganzen Team viel Erfolg, dabei viel Spaß und dass von dem speziellen Spirit, der in München herrscht, möglichst viel in Berlin erhalten bleibt.

**Welchen wichtigen Rat geben Sie den beiden neuen Labelheads Dirk Geibel und Leonard Prasuhn mit auf den Weg?**

Erst einmal freue ich mich, dass die Nachfolge aus dem eigenen Team kommt. Ich arbeite mit beiden seit Jahren vertrauensvoll zusammen, habe auch beide selbst eingestellt. Aber sie haben sich natürlich von selbst qualifiziert. Gute Ratschläge zu erteilen ist immer schwierig, deshalb kann ich eher sagen, was mir geholfen hat: Zuhören, andere Meinungen auf sich wirken lassen, und zwar unabhängig von Hierarchien, das ist ganz wichtig. Und Mitarbeitenden etwas zutrauen.

**Wenn heute ihr Einstieg in die Berufswelt wäre, würden Sie erneut in der Musikbranche anheuern?**

Ich habe mich damals ganz gezielt für die Musikbranche entschieden und würde das heute auch immer wieder machen. Auch wenn sich technologisch viel geändert hat, der Markt deutlich unübersichtlicher ist, das Finden von Artists mehr im Netz und weniger bei Konzerten erfolgt, bleibt der Kern die Musik. Und das würde mich auch heute wieder reizen. Zudem mag und mochte ich schon immer den Umgang mit unterschiedlichen Menschen und Charakteren. Da gibt es keine Branche, die so viel Vielfalt bietet und daran hat sich nichts geändert. 


![Würdigt Jörg Hellwig in einer E-Mail an das Team: Frank Briegmann, Chairman & CEO Universal Music Central Europe & Deutsche Grammophon. Foto: Peter Rigaud/Universal Music](https://s3.eu-central-1.amazonaws.com/zone.busch.store.image/9efdde28-2096-4202-8165-4baf8f5d1754.jpg)

**Frank Briegmann, Chairman & CEO Universal Music Central Europe & Deutsche Grammophon, verabschiedet Jörg Hellwig in einer Mail an das deutsche Team der Universal Music Group.**

*Liebes Team,
nach über 45 Jahren im Musikbusiness hat sich unser Electrola Managing Director Jörg Hellwig entschlossen, zum Ende dieses Jahres aus seinem aktiven Berufsleben auszuscheiden.
Jörg leitet die Electrola (vormals Koch) seit 15 Jahren mit einer unvergleichlichen Mischung aus Drive und Ruhe, mit Weitsicht, Wissbegierde, Herz, Erfahrung, Kompetenz und ganz viel Know-How. Er ist erwiesenermaßen einer der besten Executives für M-o-R-Repertoire und intensiver Kenner des Popmusikbereichs. Jörg hat im Laufe seiner Karriere diverse Labels zu maßgeblichem Erfolg geführt und unter anderem auch die gute Entwicklung von Airforce1 Records gesteuert und begleitet. Als Jörg Ende der 70er Jahre zu Zeiten der Musikkassette im Recording-Business anfing, war sein erster Erfolg das Signing von Andreas Doraus Neue Deutsche Welle Hit »Fred vom Jupiter«. Die Single erreichte Gold-Status, Jörg war zu diesem Zeitpunkt Azubi. Erinnerungswürdig bleiben u.a. auch der Fool’s Garden Hit »Lemon Tree« und auch der erste Casting Deal in Deutschland, das Format Popstars, aus dem bei Polydor der Million-Seller No Angels hervorging. Im Laufe seiner Karriere arbeitete Jörg auch immer wieder mit großen internationalen Acts wie Depeche Mode, Bee Gees, Andrea Bocelli oder auch mit deutschsprachigen Legenden wie Falco, Peter Maffay und bis heute mit Howard Carpendale zusammen. Gerade in diesem Sommer erst erreichte Reinhard Mey Platz eins der Albumcharts; die beiden sind seit über 30 Jahren eng verbunden. Was für eine Leistung! Meinen ausdrücklichen Respekt und ganz herzlichen Dank dafür, lieber Jörg!
Bitte lass mich eine Sache noch direkt anmerken: Ruhestand, lieber Jörg, kann ich mir bei Dir nicht vorstellen, sondern eher einen Un-Ruhestand! Und so bin ich optimistisch, dass wir in Deiner post-aktiven Berufszeit noch von Dir hören und sehen werden – Du bist uns immer herzlich willkommen! Alles Gute für Deinen neuen Lebensabschnitt!
Bis zum Umzug an die Spree wird Jörg Hellwig weiterhin das Label gewohnt engagiert leiten.
Viele Grüße,
Frank.*



Jörg Hellwig: "Es gibt keine Branche mit so viel Vielfalt"